EINSTÜRZENDE NEUBAUTEN „Grundstück“ VÖ: 07.09.2018
Nur was nicht ist, ist möglich. Eine Maxime, nach der die Einstürzenden Neubauten nun schon seit fast vier Dekaden bestehende Soundgrenzen einreißen, um immer neue Klangräume zu schaffen. Seinem unstillbaren Forscherdrang folgend, hat sich das Berliner Musikerkollektiv um Frontmann Blixa Bargeld in den vergangenen Jahrzehnten als eine der radikalsten, unberechenbarsten und eigenwilligsten Avantgarde-Formationen innerhalb der populären Musik etabliert, die mit ihrem Lärm-geladenen Anti-Pop bis heute globale Hörgewohnheiten prägt. Mit „Grundstück“ erscheint eine echte Rarität erstmals im regulären Handel: Ursprünglich im Jahr 2005 als streng limitierte Kleinstauflage an alle eingetragenen Band-Supporter ausgegeben, ist das gesuchte Album nun ganz offiziell als CD sowie als LP jeweils inklusive einer DVD mit bislang unveröffentlichten Filmaufnahmen des Projekts und einem umfangreichen Booklet erhältlich. Rückblick ins Jahr 2002: Um sich von der Plattenindustrie unabhängig zu machen und die volle künstlerische Kontrolle zu bewahren, rief die Band eine Internet-basierte Fan-Aktion zur Finanzierung ihres nächsten Albums ins Leben und avancierte so ganz nebenbei zu den frühen Pionieren des Crowdfunding – viele Jahre bevor andere renommierte Weltstars dieses Modell für sich entdeckten. Aus dem sogenannten Supporter-Projekt gingen in insgesamt drei Schaffensphasen verschiedene Alben hervor, die im kompletten Alleingang aufgenommen, produziert und vertrieben wurden. Eines davon stellt das 2005 entstandene „Grundstueck“-Album der Phase II dar, das nun nach gut 13 Jahren erstmalig als offizielle Version im Handel erhältlich ist. „Grundstueck“ ist der missing link zwischen dem 2004 erschienenen „Perpetuum Mobile“ und dem drei Jahre später folgenden „Alles wieder offen“. Ein bewusst im unfertigen Zustand konserviertes Interims-Werk, auf dem ein laufender Entwicklungsprozess zwischen zwei Alben auf einem gesonderten Tonträger festgehalten wurde. Das Making Of zur eigenständigen Kunstform erhoben auf einer Platte, die perfekt die Essenz der Einstürzenden Neubauten reflektiert: Ungefilterten, improvisierten Ausdruck. Kreative Freiheit in ihrer subversivsten Form, die sich weit außerhalb der gängigen Hörparameter und aller Konventionen bewegt. „Die Manifestation einer Möglichkeit“, so Blixa Bargeld. „Grundstueck“ repräsentiert das, was der Albumtitel aussagt: Ein eigenes Grundstück. Einen selbst errichteten stilistischen und vor allem ideologischen Mikrokosmos innerhalb der Popkultur, in dem die Einstürzenden Neubauten völlig autark und ungestört ihren klanglichen Forschungsprozessen nachgehen können. Eine Form der künstlerischen Unabhängigkeit ohne einer bevormundenden Plattenfirma oder anderweitigen kommerziellen Überlebensstrategien unterworfen zu sein. Passend zum experimentellen Entstehungscharakter wurden Teile des „Grundstueck“-Materials neben dem bandeigenen Berliner „The Bunker“-Studio live auf Tour eingespielt: Zusätzlich zu Blixa Bargeld, Alexander Hacke, N.U. Unruh, Jochen Arbeit, Rudolf Moser und Ash Wednesday ist ein 100-köpfiger aus Supportern bestehender Chor zu hören, der in der Minoritenkirche im österreichischen Krems, im italienischen Teatro Valli, dem ältesten Opernhaus Europas in Reggio Emilia, dem Brüsseler Konzerthaus Ancienne Belgique sowie dem Ostberliner Palast der Republik aufgenommen wurde. Eine bewusst gewünschte soziale Komponente, wie Bargeld erklärt. „Die Unterstützer konnten aktiv am Entstehungsprozess der Stücke teilhaben und unsere Studiosessions per Liveübertragung kommentieren. Und auch die Konzerte fußten auf reiner Selbstorganisation. Die Supporter halfen tatkräftig mit und haben ein eigenes basis-anarchistisches Netzwerk aufgebaut, um uns unter die Arme zu greifen. Es war extrem spannend zu beobachten, wie sich die Systeme selbst ordneten, ohne dass wir irgendwelche Anweisungen gaben.“ Eröffnet wird „Grundstück“ vom lärmig-treibenden „Good Morning Everybody“, das auf den Motorengeräuschen von Luftkompressoren basiert und von rhythmischen Stahlplatten-Beats begleitet wird. Das Kernstück bildet der 7-teilige Titeltrack, der in seiner perforierten, eruptiven und über weite Teile atonalen Experimentierfreude all das repräsentiert, wofür der Name Einstürzende Neubauten bis heute steht: Kompromisslos praktizierter Nonkonformismus und Nihilismus in Reinkultur. Abgerundet wird das Album von dem industriell-loungigen „Wo sind meine Schuhe?“ und der hypnotisierenden Studio-Improvisation „Tagelang weiss“. In engem Zusammenhang zum Album ist die ebenfalls durch Mithilfe eines Unterstützers entstandene DVD zu sehen, die am 3. November 2004 während eines speziellen Supporter-Gigs im Ostberliner Palast der Republik gefilmt wurde; dem früheren Machtapparat der einstigen DDR-Staatsführung. Zu sehen sind exklusive Liveaufnahmen in einer historischen Location, die schon wenig später abgerissen wurde, um einer baulichen Machtdemonstration der frisch wiedervereinigten BRD zu weichen. Einstürzende Neubauten in der entkernten Schaltzentrale eines kollabierten Staates – ein Zeitzeugnis mit größtmöglichem Symbolwert. Einsturz, Neubau, Grundstück.