Einstürzende Neubauten

Im West-Berlin der 80er Jahre empfanden viele junge und kreative Menschen den Ausnahmezustand als Normalität, in dem deshalb auch Alles möglich schien.

Als Blixa Bargeld gefragt wird, ob er am 1. April 1980 im Moon Club spielen will, erfindet er die Band EINSTÜRZENDE NEUBAUTEN, sagt zu und ruft dann ein paar Freunde an: die Erstbesetzung der Band besteht aus denen, die an dem Abend gerade Zeit haben. Dieses Konzert gilt als offizielle Geburtsstunde der Band EINSTÜRZENDE NEUBAUTEN. Dass diese auch nach fast 4 Dekaden noch höchst produktiv sein wird, hätte damals -definitiv- niemand zu prognostizieren vermocht.

Eine ab Januar 2017 stattfindende „Greatest Hits“ -Tour mit einem in Rekordzeit ausverkauften Doppelkonzert in der spektakulären Hamburger „Elbphilharmonie“ bekundet, dass die Band EINSTÜRZENDE NEUBAUTEN auch nach mehr als 35 Jahren intensivster Musikekstase immer noch unter den Lebenden weilen. Warum das nicht selbstverständlich ist, zeigt folgender Abriss des bewegten Lebens einer bewegenden Band.

Mit der Veröffentlichung ihres Debütalbums „Kollaps“ im November 1981 sagten EINSTÜRZENDE NEUBAUTEN sämtlichen konventionellen Hörgewohnheiten den Kampf an. Das Album ist eigentlich eine „unhörbare“ Platte, es ist ein Frontalangriff auf die damaligen vom Mainstream abgestumpften Hörgewohnheiten. Das Instrumentarium besteht u.a. mangels finanzieller Möglichkeiten, aus „gefundenen“ und selbstgebauten Objekten aus Stahlblechen, Bohrmaschinen, Hämmern, einer Nicht-Stimme, die deutschen Wortfetzen einen Text entreißt und einer professionellen Studiotechnik, die konsequent gegen ihre eigentliche technische Bestimmung eingesetzt wird. Genau diese nonkonformistische Mixtur soll der Grundstein eines völlig neuen Musikverständnisses werden, das später zahllose Künstler beeinflussen und die nachfolgenden Alben zu Meilensteinen der Industrial-Szene hoch stilisieren wird.

Das Konstrukt EINSTÜRZENDE NEUBAUTEN wird mittels seiner bahnbrechenden Mischung zu einer der wenigen deutschen Bands, die international einen echten Impuls aussendet und auf zahlreiche andere Bands und Kunstgenres, vom Tanztheater zu Bildender Kunst, und auch Film -von Schlingensief bis Tarrantino- bis heute inspirierend wirkt. Anfangs noch von den Medien als bizarre Mauerstadt-Kuriosität belächelt, etabliert sich die Band schon bald zur international gefragten Größe der Gegenwarts- und Pop-Kultur. Sie prägen eine ganze Generation und dienen auch heute noch als oft kopierte Blaupausen experimenteller Klangkunst und -performance

Bedingt durch ihre originäre und radikale Neudefinition von dem Begriff „Musik“ gehen EINSTÜRZENDE NEUBAUTEN oft ungewöhnliche und richtungsweisende Kooperationen, wie mit dem japanischen Regisseur Sogho Iishi ein, sammeln weit reichende Erfahrungen mit vom Feuilleton euphorisch angenommenen Theater-Projekten mit renommierten Regisseuren und Dramaturgen wie Peter Zadek, Heiner Müller oder Leander Haussmann und erhalten Einladungen zu weltweit beachteten Kultur-Events wie der Documenta 7, der Biennale Paris und der EXPO in Vancouver.

Immer ihrer Zeit voraus, entwickelt die Band zur Jahrtausendwende mit Hilfe von Erin Zhu eine Internet-basierte, von jeglicher Musikindustrie unabhängige Produktionsplattform, das sogenannte „Supporter“-Projekt das ihnen in den Jahren 2001 bis 2008 einen enormen Output an Veröffentlichungen ermöglicht und sie damit zu den Erfindern des heute allgegenwärtigen „Crowdfunding“ macht.

Einen weiteren eindrucksvollen Höhepunkt in der ebenso wechselvollen wie beispiellosen Geschichte der EINSTÜRZENDE NEUBAUTEN markiert der symbolträchtige Auftritt am 04. November 2004 im mittlerweile abgerissenen Berliner „Palast der Republik“, dem ehemaligen Sitz des Machtapparates der untergegangenen DDR. Das eindrucksvolle Livematerial, u.a. mit der Background-Verstärkung eines 100köpfigen Supporter-Chores entstanden, wird als Album, und als DVD „Palast der Republik“ veröffentlicht, und begeistert aufgenommenen. Das Material hat inzwischen einen dokumentarischen Wert, als Zeitzeugnis einer untergegangenen Epoche.

Seit dem Jahr 2014 wird der Band eine Anerkennung durch eine vom Goethe-Institut veranstaltete, weltweit tourende Wander-Ausstellung über die deutsche Kunst der 80er Jahre zuteil, die einen Teil der Ausstellung EINSTÜRZENDE NEUBAUTEN widmet.

Im selben Jahr entsteht im Auftrag der Region Flandern “LAMENT“, ein eigens komponiertes, musikalisches Werk zur Erinnerung an den Ausbruch des ersten Weltkrieges, das als Album veröffentlicht und am 8.November 2014 in Diksmuide, Belgien, dem 100. Jahrestag des Ausbruchs, mit einer speziell konzipierten Performance uraufgeführt wird. Album und Live-Performance werden weltweit mit überwältigender Resonanz aufgenommen und auf einer anschließenden, ausgedehnten Europatournee enthusiastisch als Meisterwerk gefeiert.

Im November 2016 erscheint nun das erste, heiß ersehnte „Greatest Hits“ – Album der Band, ein sorgfältig ausgewählter, sehr gelungener und hörenswerter Querschnitt durch 35 Jahre Band-Oeuvre. Alle Stücke wurden neu gemastered und „Haus der Lüge“ auch neu abgemischt, es wurde nun wie ursprünglich gewollt, aber damals mangels finanzieller Möglichkeiten nicht möglich, mit Streichern und Bläsern ergänzt.
Der Titel „Greatest Hits“ ist natürlich mit einem ironischen Augenzwinkern zu verstehen.

Damit treten EINSTÜRZENDE NEUBAUTEN noch einmal mehr den Beweis für die nachhaltige Wirksamkeit ihrer philo-akustischen Langzeittherapie an: Die einstige Berliner Mauerkrankheit haben Blixa Bargeld, Alexander Hacke, N.U. Unruh, Rudolf Moser und Jochen Arbeit vollends besiegt und die apokalyptischen Visionen und Todessehnsüchte früherer Tage gehören schon längst der Vergangenheit an. Den nimmermüden Entdeckergeist indes treibt noch immer das gleiche, heiß lodernde Verlangen an: EINSTÜRZENDE NEUBAUTEN forschen weiter auf ihrer ewigen Suche nach dem noch unentdeckten Geräusch.

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